still -ein Briefroman | von Luca Luboeinski

Zabergäu-Gymnasium Brackenheim
J1, Schuljahr 2013/14
Briefroman von Luca Luboeinski,20.01.2014
still

Tom Hansen 10. Dezember 2013
Büro Hansen & Tann
Karlsstraße 13
24103 Kiel, Deutschland
Mein lieber Tom,
wundere Dich bitte nicht darüber, dass ich Dir per Brief Bericht erstatte, der W-Lan-Router des Hotels ist ausgefallen und Telefonleitungen hierher gibt es natürlich auch noch nicht. Deshalb bin ich gezwungen, Dir die Ergebnisse meines Aufenthalts hier per Post mitzuteilen.
Die Anreise war weit angenehmer als gedacht, die Fahrt bis Basel ist völlig ohne Zwischenfälle verlaufen, nicht einmal der Verkehr hat Probleme gemacht. Sogar die anschließenden zwei Stunden Flug mit dem Heli zum Hotel waren überraschend ruhig, keine Wolke war am Himmel.
Du weißt ja, wie sehr mir das Fliegen an sich widerstrebt, aber der Ausblick auf die Gipfel, den leuchtend weißen Schnee, die völlige Unberührtheit der Berge… das war wirklich ein erhebendes Gefühl. Es hätte Dir sicherlich auch gefallen.
Das Hotel selbst ist eine wahre Augenweide, überall Glas und Stahl mitten in diesem kleinen, verschneiten Tal – umwerfend. Die Zimmer, auch der Meeting-Raum, sind großzügig und sauber, beste Voraussetzungen also für angenehme und zufriedenstellende Verhandlungen. Was kann man sich für die nächsten paar Tage mehr wünschen?
Die Post wird hier jeden Freitag, also in drei Tagen, mit dem Helikopter abgeholt, Du wirst Dich also immer etwas gedulden müssen, bis Du über die neuesten Entwicklungen Bescheid weißt.
Bevor es morgen dann richtig losgeht, werde ich mir heute erst einmal zusammen mit Lottmann die anderen Verhandlungsteilnehmer ansehen; sie sollten in den nächsten Minuten eintreffen. Ich bin schon sehr gespannt, ob die Iren Murphy und Allice geschickt haben oder jemand anderen. Murphy kann ein ziemlich unangenehmer Verhandlungsgegner sein, aber das weißt Du nach Barcelona ja wahrscheinlich selbst am besten, nicht wahr?
Ich halte Dich auf dem Laufenden.
Beste Grüße aus der Schweiz und gute Besserung,
Jonah

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Tom Hansen 11. Dezember 2013
Büro Hansen & Tann
Karlsstraße 13
24103 Kiel, Deutschland
Lieber Tom,
ich fürchte, diese Briefe werden Dich sogar noch später als erwartet erreichen. Gestern Nacht ist ein starker Sturm aufgezogen, wir sind hier völlig von der Außenwelt abgeschottet – und laut dem Rezeptionisten wird sich daran die kommenden Tage auch nichts ändern. Der Wind ist zu stark und die Sichtverhältnisse sind zu schlecht, als dass die Hubschrauberverbindung nach Chur in Betrieb genommen werden kann.
Noch immer sind nicht alle Teilnehmer angekommen, der Beginn der Verhandlungen ist auf morgen Mittag verlegt worden, aber allem Anschein nach müssen wir wohl oder übel ohne die Vertreter aus Basel, Kiew und Dublin beginnen.
Was nicht unbedingt zu unserem Nachteil gereichen sollte, nicht wahr?
Die meisten anderen Teilnehmer sind meiner Einschätzung nach keine Gefahr für uns, nur um die Chinesen und den Franzosen müssen wir uns möglicherweise Sorgen machen.
Während ich Dir diesen Brief schreibe, türmt sich der Schnee auf den kleinen Vorsprüngen vor den hohen Fenstern in meinem Zimmer. Faszinierend. Und das, obwohl ich eigentlich nicht zu den Leuten gehöre, die sich über Schnee freuen. Aber wem erzähle ich das eigentlich, mein Freund?
Trotzdem, es hat eine eigene Art von Schönheit. Fast so, als ob die Flocken einen eigenen Willen hätten und mit aller Kraft versuchten, herein zu gelangen…
Ich berichte Dir morgen dann, wie die ersten Sitzungen gelaufen sind.
Bis dahin alles Gute,
Jonah

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Tom Hansen 12. Dezember 2013
Büro Hansen & Tann
Karlsstraße 13
24103 Kiel, Deutschland
Mein lieber Tom,
die ersten Verhandlungen heute Mittag waren vielversprechend. Wie ich vermutet habe, sind die meisten der übrigen Angereisten keine ernst zu nehmende Konkurrenz für unser Büro. Auch der Franzose hat sich zu meiner Überraschung nicht als Risiko für unser Unternehmen herausgestellt. Allem Anschein nach haben zwei seiner Kollegen kurz vor Beginn der Tagung abgesagt, und nun kann er offensichtlich auf die Schnelle keine überzeugende Strategie entwickeln.
Gut für uns, schlecht für ihn. Tja, so ist das nun mal im Geschäftsleben…
Die Chinesen sind wie erwartet eine harte Nuss, aber Lottmann und ich rechnen uns gute Chancen aus, sie spätestens übermorgen ausstechen zu können.
Ein sehr fähiger Mitarbeiter, dieser Lottmann, wie ich hier noch mal betonen möchte. Es war eine gute Entscheidung, ihn nach seinem kleinen Ausrutscher nicht zu entlassen. Ich denke, dafür können wir uns durchaus selbst gratulieren, was meinst Du?
Das Wetter hat sich aller Hoffnung zum Trotz immer noch nicht gebessert, ich habe sogar den Eindruck, dass es eher noch schlechter geworden ist. Vielleicht bilde ich mir das aber auch nur ein, wer weiß. Ich bin ja schließlich kein Wetterfrosch.
Allmählich fängt das beständige leise Prasseln des vom Wind gegen die Fenster getriebenen Schnees an, mir auf die Nerven zu gehen. Ich habe keine Ahnung, wie ich in diesem nervtötenden Gestöber da draußen gestern noch irgend eine Form von Schönheit erkennen konnte!
Völlig absurd!
Ich hoffe, Deine Genesung macht Fortschritte, bis dahin alles Gute von mir,
Jonah

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Tom Hansen 13. Dezember 2013
Büro Hansen & Tann
Karlsstraße 13
24103 Kiel, Deutschland
Lieber Tom,
die Verhandlungen laufen weiterhin bestens. Die Brasilianer und die Österreicher haben sich heute Morgen vollends von den Gesprächen zurückgezogen, die Engländer werden es ihnen spätestens morgen gleichtun.
Es könnte nicht besser für uns laufen!
Nur die Chinesen haben sich als härtnäckiger herausgestellt, als wir dachten. Aber auch die werden uns sicher nicht den Deal verderben, da bin ich sicher. Sie haben zwar einige gute Angebote gemacht, und in Sachen Professionalität und Souveränität können sie es durchaus mit Lottmann und mir aufnehmen.
Dafür haben wir aber die bessere Ausgangsposition.
Lottmann baut nebenbei ein paar neue Verbindungen zu den übrigen Gästen hier auf – selbst wenn wir den Auftrag nicht bekommen (was ich nun doch stark zu bezweifeln wage), werden wir trotzdem von diesem Treffen profitieren, das ist mal sicher.
Aber ich bin überaus zuversichtlich, dass alles nach Plan laufen wird.
Dass die Iren, Schweizer und vor allem die Ukrainer wegen dem Sturm nicht anreisen konnten, verschafft uns außerdem Verhandlungszeit im Überfluss. So müssen wir nicht unter Zeitdruck arbeiten, was den üblichen Tagungsstress erheblich erträglicher macht – und der Wellessbereich des Hotels ist auch nicht von schlechten Eltern, das kann ich Dir sagen!
Der Franzose ist heute nicht zur Mittagsbesprechung erschienen, auch beim Essen hat ihn niemand gesehen. Hat sich wahrscheinlich eine Erkältung eingefangen, was
ja bei diesem Wetter bei weitem keine Kunst ist; der Schnee fällt und fällt, es ist einfach unglaublich! Als ob alle Wolken der Schweiz über dieser Region hier versammelt wären! Schrecklich! Und immer noch ist kein Wetterumschwung in Sicht!
Es ist unfassbar – wir sind jetzt vier Tage hier… und es kommt mir schon viel länger vor. Als ob die letzten vierzehn Jahre in Kiel schon ein ganzes Leben zurücklägen…
Es ist dieses Wetter, ich bin mir sicher, diese trübsinnige Stimmung und die dauernde Müdigkeit – das kommt von dem ganzen verdammten Schnee! Es macht mich wahnsinnig!
Bis (hoffentlich) bald, Grüße,
Jonah

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Tom Hansen 14. Dezember 2013
Büro Hansen & Tann
Karlsstraße 13
24103 Kiel, Deutschland
Lieber Tom,
die Verhandlungen sind auf unbestimmte Zeit hin unterbrochen; Heute Vormittag hat ein Angestellter des Hotels die Leiche des französischen Vertreters entdeckt, er lag draußen vor dem Lieferanteneingang. Allem Anschein nach ist der Ärmste erfroren, es gibt keine Spuren, die auf irgendeine Art von Verbrechen hindeuten würden.
Im Moment versucht der Sicherheitsdienst noch, zu verstehen, warum und wann er das Hotel verlassen hat, aber ich habe gehört, dass durch das Schneegestöber draußen auf den Bändern der Überwachungskameras wohl kaum etwas zu erkennen ist.
Dieser Vorfall setzt allen hier schwer zu, noch dazu in Kombination mit dem scheußlichen Wetter. Ich bin nicht der Einzige, dem das ständige Zwielicht draußen zu schaffen macht, auch die anderen Verhandlungsteilnehmer klagen über Müdigkeit und Antriebslosigkeit.
Was für ein trostloser Ort, sogar das Interieur des Hotels scheint mit jedem Tag an Farbe und Gemütlichkeit zu verlieren.
Das Personal hat uns versichert, uns sobald wie möglich mit Hubschraubern abholen zu lassen – sobald das Wetter es zulässt. Langsam werden auch die Angestellten unruhig, das Wetter und der tote Gast setzen auch ihren Nerven zu.
Du kannst wirklich von Glück sagen, dass Du mit deinem Bruch nicht mitkommen konntest! Diese Tagung ist bei weitem die schlimmste meines Lebens, und Du weißt ja, dass das durchaus etwas heißen will!
Ich nehme schwer an, dass die Veranstalter die Verhandlungen vollends absagen und auf einen neuen Termin verlegen, wenn sich das Wetter und die Stimmung hier nicht bald bessern. Soll mir recht sein, ich habe keine Lust, noch länger als unbedingt nötig in diesem öden Tal herumzuhocken!
Ich halte Dich weiter auf dem Laufenden, beste Grüße,
Jonah

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Tom Hansen 15. Dezember 2013
Büro Hansen & Tann
Karlsstraße 13
24103 Kiel, Deutschland
Mein lieber Tom,
heute hat es endlich aufgehört zu schneien! Keine einzige Wolke ist mehr am Himmel, als ob der Sturm der letzten vier Tage nie stattgefunden hätte!
Und sofort spüre ich wieder, wie die Freude und der Tatendrang zurückkehren, den übrigen Teilnehmern und dem Personal geht es ähnlich. Ich sehe es auf ihren Gesichtern, alle sind erleichtert, dass der trostlose Schnee und mit ihm auch dieses Gefühl der Müdigkeit verschwunden ist.
Was für ein befreiendes Gefühl das ist – ich bezweifle, dass Du Dir dass überhaupt vorstellen kannst! Wundervoll!
Trotz des plötzlichen Wetterumschwungs haben die Veranstalter beschlossen, die Tagung an dieser Stelle abzubrechen und auf April nächsten Jahres zu verlegen. Den genauen Termin sollen wir im Verlauf der kommenden Wochen erhalten.
Ich muss gestehen, dass ich über diese Entscheidung alles andere als unglücklich bin, die letzten Tage haben mir doch sehr zu schaffen gemacht.
Entschuldige bitte diesen mehr als kurzen Brief, aber ich muss mich erst noch ein wenig von den Geschehnissen hier erholen. Außerdem werden wir voraussichtlich am späten Nachmittag mit den Hubschraubern von hier weggebracht… Endlich! Und der Koffer packt sich schließlich nicht von selbst, nicht wahr?
Wenn alles läuft wie geplant, sprechen wir morgen schon wieder persönlich miteinander, mein Freund! In diesem Sinne: Bis morgen, ich freue mich wirklich darauf,
Jonah

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Tom Hansen 16. Dezember 2013
Büro Hansen & Tann
Karlsstraße 13
24103 Kiel, Deutschland
Mein lieber Tom,
leider muss ich Dir mit diesem Brief mitteilen, dass ich immer noch in diesem verdammten Hotel festsitze! Der geplante Hubschrauberflug zurück nach Basel konnte nur teilweise in die Tat umgesetzt werden:
Gestern Nachmittag trafen zwar um knapp siebzehn Uhr drei Hubschrauber ein, die aber nur zwölf von uns insgesamt zwanzig Gästen mitnehmen konnten. Soweit ja noch kein Grund zur Sorge. Aber kurz nachdem die Helikopter außer Sicht waren, begann es wieder zu schneien. Ich habe noch nie Wolken gesehen, die sich so zusammenbrauen, es war unglaublich. Und mit einem Mal war diese Düsternis wieder da, die wir schon wieder verdrängt gehabt hatten – und es wird von Minute zu Minute schlimmer…
Jetzt sind nur noch vier Chinesen, zwei Engländer und Lottmann mit mir hier – abgesehen vom Personal natürlich. Insgesamt sind wir hier jetzt also fünfundzwanzig Personen. Zum Glück ist die Anlage aber groß genug, um sich größtenteils aus dem Weg gehen zu können, ansonsten würde hier bestimmt bald der Lagerkoller ausbrechen.
Aber es kommt noch schlimmer: Heute Nacht hat irgend ein Idiot den Kessel der Zentralheizung so stark beschädigt, dass sie ihren Geist aufgegeben hat. Draußen hat es um die minus zehn Grad, und hier drin wird es mit jeder Stunde kälter.
Wenigstens die Beleuchtung und die Wasserversorgung funktionieren noch reibungslos, trotzdem mache ich mir große Sorgen wegen der Kälte. Zwar haben alle Anwesenden Winterkleidung dabei, aber auf die Dauer wird uns das wenig helfen, fürchte ich.
Das einzige, was wir jetzt tun können, ist, auf einen neuerlichen Wetterumschwung zu warten. Es hat wieder angefangen zu stürmen, und der Wind treibt die Flocken gegen die Scheiben. Es ist fast so, als wäre der kurze Lichtblick gestern Morgen nur ein Traum gewesen, als hätte es die kurzen Momente der Hoffnung nie gegeben…
Das einzige Geräusch, das ich höre, während ich Dir diesen Brief schreibe, ist das fast unhörbare Geräusch der Flocken an den Fensterscheiben.
Unheimlich.
Mir bleibt nicht viel mehr, als Dir wie immer alles Gute zu wünschen. Ich hoffe, wir sehen uns wieder.
Jonah

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Tom Hansen 17. Dezember 2013
Büro Hansen & Tann
Karlsstraße 13
24103 Kiel, Deutschland
Heute morgen konnte ich Lottmann nirgends finden. Nach zwei Stunden Suche habe ich es aufgegeben. Ich mache mir Sorgen, Tom. Große Sorgen. Etwas stimmt ganz und gar nicht hier, Lottmann ist nicht der Einzige, der verschwunden ist. Auch die Chinesen vermissen einen Kollegen, und den Koch und den Leiter des Sicherheitsdienstes hat heute auch noch niemand gesehen.
Irgendetwas geschieht hier, Tom, aber ich kann Dir nicht sagen, was es ist. Nur so viel ist sicher:
Es macht mir Angst.
Ich habe die Befürchtung, dass wir einen Mörder unter uns haben.
Ich weiß, es klingt für Dich vielleicht albern und dumm, aber Du kannst es nicht verstehen. Du kennst dieses Gefühl nicht, das in der Luft liegt, wie eine böse Vorahnung. Es sickert durch deine Augen, die Ohren, den Mund, mit jedem Atemzug nimmst du es in dich auf. Es drängt sich in dein Gehirn und verdrängt jeden schönen Gedanken! Halte mich meinetwegen für verrückt, aber es ist fast greifbar!
Ich sehe alles nur noch durch einen grauen Filter, jedenfalls kommt es mir so vor!
Langsam fange ich sogar selber an, an meinem Verstand zu zweifeln! Ich sehe in den Spiegel und fürchte mich vor dem Flackern in meinen Augen! Ich lese die Briefe an dich, wieder und wieder und wieder, aber die Worte verschwinden sofort wieder aus meinem Kopf! Von Zeit zu Zeit höre ich Stimmen, aber ich verstehe nicht was sie sagen. Und dann gibt es wieder nur die Geräusche des Schnees vor den Fenstern…
Nur die Angst bleibt. Die Angst, blinde, stumme Angst, Angst vor irgendetwas im Schnee, in den Fluren, in den Köpfen der Anderen…
In meinem Kopf?
Habe ich den Franzosen im Schnee erfieren lassen? Habe ich ihn draußen im Schnee umkommen lassen? An einen Unfall Kann ich nach dem Verschwinden der Anderen nicht mehr glauben.
Habe etwa ich etwas mit dem Verschwinden der übrigen Vier zu tun?
Bin ich ein Mörder?
Werde ich wahnsinnig – oder bin ich etwa schon verrückt?
Nichts ergibt mehr Sinn, Tom, mein Kopf fühlt sich an wie mit Watte ausgestopft…
Aber…
Warte… da ist etwas… etwas in meinem Kopf… Es flüstert, Tom, es flüstert… Was ist das? Es spricht zu mir… es spricht… Mach, das es still ist, Tom. Es soll still sein! Still! Mach es raus aus meinem Kopf! Mach es raus! Bitte!
Hilf mir!